„Mama wenn ich groß bin und ein Junge, dann kann ich auch im stehen pinkeln.“
Ich erkläre meiner 3 jährigen Tochter, dass das nicht geht, da sie ja als Mädchen geboren ist und niemals ein Junge werden wird. Wenn ich damals gewusst hätte, was dieser Satz für eine Tragweite hat, hätte ich bestimmt besser zugehört, besser hingeschaut und es nicht wegdiskutiert.
Lange, lange ist mir nichts Außergewöhnliches an meinem Kind aufgefallen. Dass die Puppen in der Ecke lagen, das Puppenhaus nicht angerührt wurde, zum Geburtstag das schönste Geschenk ein Quad war…. Alles Dinge die mich nicht zum Nachdenken gebracht haben. Als es dann mit 6 Jahren auch Diskussionen um die Kleidung gab und mein Kind den Schrank ausräumte und alles aussortierte, was nur ein ganz klein wenig nach Mädchen aussah, war mir immer noch nicht bewusst, was hier vor sich ging. Ich dachte damals einfach, dass es schon auch ein bisschen cool ist, dass mein Kind eben nicht so eine kleine Püppi ist. Dann kam der Tag als die Haare ab sollten. Das fand ich dann doch schon etwas aufregend. Aber als ich in die Sternchenaugen meines Kindes schaute, als es mit dem Papa vom Friseur nach Hause kam, da dachte ich nur „ach es sind doch nur Haare und wenn es meinem Kind gefällt, ist das so in Ordnung“. Und so schlich sich die Veränderung meines Kindes einfach so in unseren Alltag und irgendwann sah mein Mädchen überhaupt nicht mehr wie ein Mädchen aus und wir bemerkten gar nicht wie andere Menschen unser Kind sahen. Bis eines Tages eine andere Mama mein Kind „Sohn“ nannte. Ich war geschockt und in dem Moment war mir bewusst, wie die Außenwelt mein Kind wahrnahm. Und dann eines Tages mit 8 Jahren, stand mein Kind mit großen Kullertränchen in den Augen vor mir und es platzte aus ihm heraus, dass es kein Mädchen sei, sondern ein Junge. Mir riss es den Boden unter den Füßen weg.
Was war dass? Wo kommt das her? Geht das wieder weg? Ich konnte es nicht fassen und jetzt fiel der Schleier von meinen Augen. Ich nahm mein Kind in den Arm und wusste, egal was genau das alles zu bedeuten hat, ich werde es mit all meiner Kraft unterstützen und an seiner Seite bleiben, so lange bis es den Weg allein weiter gehen kann. Ich hielt es ganz fest und flüsterte mit dickem Kloß im Hals: „Schatz das kriegen wir irgendwie hin“. Ich hatte keine Ahnung wie und was ich nun genau tun sollte. Da wir zu dieser Zeit in einer Kureinrichtung waren, bat ich gleich am nächsten Tag um einen Termin bei der dort ansässigen Psychologin. Dort konnte ich endlich meinen Tränen freien Lauf lassen. Ich weinte und weinte und weinte und wußte gar nicht so richtig wohin mit meinem Gefühlschaos. Aber ich ahnte, dass dies der Anfang von einem sehr weiten Weg war und dass ich viel Kraft brauchen würde, um diesen mit meinem Kind zu gehen. Zum Glück war die Psychologin sehr verständnisvoll und gab mir Zeit und Raum, um mich mit dem Gedanken vertraut zu machen. Sie erklärte mir, was mit meinem Kind sei und dass ich auf gar keinen Fall allein damit sei. Dass es einige Kinder in dem Alter gibt, denen es genauso gehen würde. Sie gab mir Tipps für die nächsten Schritte. So kam ich an die Adresse von different people.
Mittlerweile hatte mein Kind sich schon einen tollen Jungsnamen ausgedacht und forderte von mir, dass ich diesen ab nun benutzen solle. Das fühlte sich sehr unbehaglich an, als ob ich ein fremdes Kind rufe. Aber ich versuchte es und auch das Pronomen „er“ anzuwenden. Ich hatte während des Kuraufenthaltes viel Zeit, um mich mit meinem Kind und dem neuen Thema zu befassen. Aber wie sag ich das denn meinem Mann und meiner Tochter. Wie werden sie reagieren? Als wir dann nach Hause kamen, haben wir Familienrat gehalten und dabei wurde schnell klar, dass wir alle gemeinsam mit unserem Kind den Weg gehen werden. Meiner Tochter fiel es am Anfang alles sehr schwer zu akzeptieren und auch mein Mann hatte Schwierigkeiten sich von seinem Mädchen zu lösen und seinen Sohn willkommen zu heißen. Der Name änderte sich noch 2 mal bevor dann der richtige Name gefunden war, der dann auch wie die Faust aufs Auge gepasst hat. Und als ich dann das erste Mal sehr bewusst meinen Sohn mit diesen Namen ansprach, strahlten mich zwei unglaublich glückliche Augen an. Da wusste ich, wir machen das alles richtig.
Nun war die Zeit gekommen, dass mein Kind nicht nur zu Hause so sein wollte, wie er sich richtig fühlt und drängelte sehr, sein Geheimnis seinen Freunden und Mitschülern preis zu geben. Ich machte also einen Termin mit seiner Lehrerin und der Direktorin. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, da ich nicht wußte wie sie reagieren werden. Als es dann aber ausgesprochen war und die Lehrerin uns volle Unterstützung zusagte, war ich um Einiges erleichtert. Wir bereiteten dann gemeinsam das Outing in der Schule vor. Nach den Winterferien sollte es dann soweit sein. Die Lehrerin begrüßte die Klasse und sagte, dass ein Kind die Klasse verlassen hat und eins neu dazu gekommen war und dann stellte sich mein kleiner Held vor die ganze Klasse, erzählte seine Geschichte und bat seine Mitschüler ihn ab jetzt mit seinem neuen Namen anzusprechen. Was hat dieser kleine Kerl da für einen Löwenmut bewiesen. Und dieser sollte auch belohnt werden. Die Kinder waren sehr verständnisvoll und probierten gleich den schönen neuen Namen aus und das Eis war gebrochen. Ich war so, so stolz auf den kleinen Kerl. So verging die Anfangszeit ohne große Probleme. In der Schule und auch im näheren Umfeld wurde mein Sohn so genommen wie er eben ist und wir gingen einen Schritt nach dem anderen. Es standen Untersuchungen an, Psychologentermine und different people stand uns immer mit Rat und Tat zur Seite. Wir haben viele gute Tipps bekommen und auch wenn es mal nicht ganz so einfach war, konnten wir uns immer dahin wenden. Hier wurden Tränen weggetrocknet und Kontakte hergestellt, wichtige Empfehlungen für den weiteren Weg gegeben und wir haben andere Familien mit ähnlichen Geschichten kennengelernt. Es war unglaublich wichtig zu wissen, dass man nicht alleine ist.
Heute ist mein Sohn 15 Jahre alt, geht aufs Gymnasium, hat Freunde die ihn so nehmen wie er ist und ich bin sehr, sehr glücklich, dass er in so jungen Jahren den Mut hatte, sich mir anzuvertrauen um sein eigenes Ich zu finden. Egal was da noch auf uns zukommen wird, wir werden den Weg gemeinsam gehen und ich werde immer hinter meinem Sohn stehen, auch wenn ich meine kleine Tochter vor 6 Jahren zurück lassen musste.