Erfahrungsbericht von einer Mutter eines heute 19jährigen Transjungen
Wir sind eine ganz normale Familie bestehend aus mir, meinem Mann, unserer 30jährigen Tochter (die ihre eigene kleine Familie hat und von einem anderen Papa ist), unserem gemeinsamen 19jährigen Transjungen und unserem gemeinsamen 15jährigen Sohn. Wir haben auch schon bei jedem unserer Kinder Phasen durch, die nicht so toll waren aber wir haben sie als Familie gemeistert, auch wenn es nicht immer leicht war. Wir möchten, das jedes unserer Kinder sich frei entfalten kann und glücklich ist und dafür tun wir als Eltern alles, weil wir unsere Kinder lieben.
Besonders möchte ich von unserem Transjungen berichten, bei dem wir zu Anfang dachten, es ist nur eine Phase aber das war es nicht, wie sich später herausstellte. Er wurde 2003 im Körper eines Mädchens geboren. Die ersten Jahre waren nicht anders, wie bei unseren anderen Kindern auch. Er war ein sehr aufgeschlossenes, lebenslustiges, wissbegieriges und kluges Kind. Er trug Kleider, tanzte gern und lachte viel. Er brachte uns immer zum lachen.
2009 wurde er eingeschult. Ab da veränderte sich sein Leben so langsam, sagte er nach seinem Outing. Er wusste, das irgend etwas anders war aber konnte es noch nicht so richtig einordnen. Ab diesem Zeitpunkt merkten wir noch nicht, das da was nicht stimmte. Er gab sich ganz normal nach außen hin. Weitere zwei Jahre vergingen. Er war inzwischen 8 Jahre alt und ging in die 3. Klasse. Unser Kind kam immer gut an und hatte viele Freundinnen denn mit Jungs konnte er nicht so viel anfangen. Zu dieser Zeit liebten viele Kinder Harry Potter, so las auch er alle Harry Potter Bücher und schaute alle Filme. Er war zu diesem Zeitpunkt ein richtiger Harry Potter- Fan. Alles drehte sich um ihn. Sie spielten im Hort die Harry- Potter Szenen nach. Heute sagt mein Sohn: „Die Mädchen waren alle in den Charakter Ron verliebt und ich wollte so sein, wie er.“ Ab diesem Zeitpunkt wusste er, das er ein Junge ist. Heute sagt unser Sohn immer, Harry Potter hätte sein Leben verändert.
Wir wussten zu diesem Zeitpunkt natürlich immer noch nichts aber bekamen mit, wie er sich veränderte. Er hatte keine Lust mehr mit uns baden zu gehen wenn wir im Urlaub waren, obwohl er es immer liebte mit uns im Wasser zu planschen. Plötzlich wollte er es nicht mehr. Er hasste seine langen Haare und er schloss sich immer sehr lange im Bad ein, was oft für Ärger sorgte. Niemand durfte mehr in sein Zimmer, vor allem sein kleiner Bruder nicht. Heute wissen wir warum. Der kleine Bruder war so, wie er sein wollte…nämlich ein Junge. Sein Bruder war oftmals traurig und wütend. Er fragte sich, warum sein Bruder ihn nicht lieb hat. Unser Kind veränderte sich sehr. Wir waren sehr ratlos. Er wusste, was mit ihm ist aber wir nicht. Das machte die Sache sehr kompliziert. Die Zeit verging und es wurde nicht besser. Wir hatten alle sehr damit zu kämpfen.
Dann kam die Jugendweihe und endlich das Outing. Es war Anfang März 2017 und er war 14 Jahre alt. Ich bin mit ihm in die Stadt um Jugendweihsachen zu kaufen. Auf dem Weg unterhielten wir uns. Er sagte zu mir: „ Meine Freundinnen haben mich gefragt, was ich denn für ein Kleid tragen würde zur Jugendweihe und ich sagte..seid ihr verrückt, ich zieh doch kein Kleid an.“ Daraufhin sagte ich zu ihm: „ Manchmal habe ich das Gefühl, Du möchtest gar kein Mädchen sein.“ Heute bin ich froh, diesen Satz gesagt zu haben. Er hat alles ins rollen gebracht. Er hat sich an diesem Tag natürlich entschieden noch keine Sachen zu kaufen.
Zwei Tage später. Sein Papa war auf Arbeit und sein Bruder bei einem Freund spielen. Also war ich allein daheim mit ihm. Ich saß im Wohnzimmer auf dem Sofa. Da kam er und setzte sich zu mir. Er war ganz aufgelöst und rutschte wie ein kleines Kind, was etwas ausgefressen hatte, von einer Pobacke auf die andere. Ich fragte ihn, was denn los sei und er könne mit mir über alles reden. Ich hatte Angst, was jetzt kommen würde. Da sagte er: „ Mama, Du hast doch gesagt, das Du das Gefühl hast, das ich kein Mädchen sein will…das stimmt.“ Die Erleichterung stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Nun war es raus. Erst war ich schon ein bisschen irritiert um genauer zu sagen geschockt, aber das hielt nur wenige Sekunden an. Ich wusste, das etwas durch sein ganzes Verhalten nicht in Ordnung war aber an so etwas hätte ich im Leben nicht gedacht, weil man sich bis dato mit diesem Thema nie beschäftigt hat. Ich nahm ihn weinend in den Arm und sagte: Wir schaffen das. Es ist egal ob Du ein Mädchen bist oder ein Junge…das Herz bleibt doch das gleiche und wir lieben Dich so, wie Du bist.“ Wir haben noch lange geredet und auch viel geweint. Ich hab ihm gesagt, das ich mich sehr schlecht fühle. Ich fühle mich als Mutter versagt zu haben. Es ist nicht, weil er transident ist sondern es hat mich sehr traurig gemacht das wir all`die langen Jahre bis zu seinem Outing nicht für ihn da gewesen sind. Es zerriss mir mein Herz. Er war ganz allein auf sich gestellt. Ich hab mir solche Vorwürfe gemacht. Aber er nahm mich in den Arm, beruhigte mich und sagte: “ Da kannst Du doch nichts dafür. Ihr habt ja nichts gewusst. Ich musste mich doch erst mal selbst finden. Ich wusste doch selber nicht was mit mir los war. Mach Dir keine Vorwürfe. Ich hab Dich lieb.“
Wie schon erwähnt, dachten wir am Anfang, das es nur eine Phase sei, die vorüber geht. In seiner Klasse war ein Mädchen, der es genau so ging. Sie hatte sich mit diesem Thema per Internet schon schlau gemacht und sie wurden beste Freunde und redeten natürlich gemeinsam drüber. Wir dachten damals, das er dem Mädchen alles nachmachen wollte und die Phase bald vorüber ging aber dem war nicht so denn ab da wusste unser Kind was mit ihm los war, so sagt er es heute. Er konnte dem ganzen einen Namen geben. Er ist transident. Ein Junge geboren im falschen Körper. „transident“ ist ein natürlich bedingtes Phänomen, bei dem die Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht übereinstimmt.
Dieses Mädchen ist heute 20 Jahre alt und lebt heute auch schon ein paar Jahre als Junge und sie sind immer noch beste Freunde. Es war also doch keine Phase!
Ab diesem Zeitpunkt dachten wir, wenn wir schon die ganze Zeit nicht für ihn da waren, dann dafür jetzt umso mehr.“
Nach dem unser Sohn mir alles erzählt hatte, redete ich erst mal allein mit seinem Vater. Er weinte und wollte es nicht wahrhaben. Er wollte sein kleines Mädchen wieder zurück. Ich nahm ihn in den Arm und sagte „ …und ich möchte ein glückliches Kind. “ Er gab mir Recht und ab diesem Zeitpunkt ging er den Weg mit uns auch wenn es ihm am Anfang sehr schwer fiel. Unser Sohn wollte, das wir ihn mit dem Pronomen „er“ und dem neuen Namen ansprechen, was uns anfangs nicht immer gelang. Aber wir gaben uns große Mühe.
Heute ist es, als hätte er nie einen anderen Namen gehabt. Wir sind sehr stolz auf unseren Jungen. Wir sortierten seine Schränke aus, den ganzen Mädchenkram weg und kauften ihm Jungenkleidung und seine Haare wurden kürzer. Er strahlte bis über beide Ohren. Es war schön, ihn so glücklich zu sehen. Er wirkte wie ausgewechselt. Unser Kind lachte wieder mehr, nahm wieder am Familienleben teil, und machte mit seinem Bruder wieder Späße. Auch er war glücklicher. Endlich durfte er wieder mit ihm spielen und lachen. Wir hatten wieder zwei glückliche Jungs. Heute ist er 19 Jahre alt und lebt jetzt schon 5 Jahre als Junge/ jetzt Mann. Wir sind schon einen langen Weg gegangen. Dank einer sehr guten jahrelangen Freundin der Familie, die auch einen Transjungen hat, haben wir den Weg zum Verein different people in Chemnitz gefunden. Sie und der Verein haben uns sehr geholfen. Man kann und muss da nicht allein durch. Man ist am Anfang erst mal sehr ratlos und braucht erfahrene Leute, die einem den Weg ebnen. Wir haben viele Tipps und gute Ratschläge bekommen. Unser Sohn hat sich ein mal die Woche mit Jugendlichen und Erwachsenen getroffen, denen es genauso geht wie ihm. Anfangs war es für ihn noch beschwerlich dort hinzugehen aber nach und nach wurde es besser. Es hat ihn sehr gestärkt. Und auch uns Eltern hat es Mut gemacht. Auch wir treffen uns seit dem einmal im Monat zu den Angehörigentreffen von different people. Wir möchten es nicht mehr missen. Wir können es gar nicht in Worte fassen, wie dankbar wir dafür sind, das es den Verein gibt und auch die Freunde, die wir dort kennenlernen durften sind toll. Wir lachen und weinen miteinander, machen uns gegenseitig stark und sprechen uns Mut zu. Der Austausch tut gut.
Seit seinem Outing ist viel passiert. Ihm wurden 2 Jahre lang Hormonblocker verabreicht in Spritzenform, die er jetzt schon lang nicht mehr braucht. Er nimmt täglich sein Testogel.
Seine Geburtsurkunde wurde auf seinen neuen Namen geändert, demzufolge auch alle anderen persönlichen Dokumente. (Zeugnisse, Krankenkarte, Ausweis usw.)
Unser Junge ist schon lange bei der gesamten Familie geoutet, er war auch bei seiner Klasse und bei seinen Lehren und dem Direktor des Gymnasiums geoutet. „War“ deshalb, weil er sein Abi mit Bravour gemeistert hat und nicht mehr am Gymnasium ist. Er ist ausgezogen und studiert jetzt in Potsdam, was auch super klappt. Niemand hatte ein Problem damit, das er jetzt ein Junge ist und im inneren schon immer war.
Und jetzt haben wir noch die Zusage für die Kostenübernahme der ersten OP bekommen. Die Brustentfernung, die Gebährmutterentfernung und die Eileiterentfernung finden im September diesen Jahres statt. Er freut sich so sehr drauf auch wenn er schon ein bisschen Bammel davor hat. Aber danach wird er sich wieder ein Stück besser fühlen. Wir freuen uns so für Ihn, auch wenn wir ebenfalls Angst vor dem Eingriff bei ihm haben, aber es muss gemacht werden um seinem ich wieder ein Stück näher zu kommen. Wir sind sehr froh, das ihn bis jetzt das gesamte Umfeld so nimmt und liebt, wie er ist. Er hat es verdient. Jeder hat es verdient ein sorgenfreies Leben zu führen egal ob er anders ist. Jeder hat es verdient glücklich zu sein.
Manchmal habe ich Angst, weil mein Junge nicht der sogenannten „Norm“ entspricht, so wie es die Gesellschaft fordert. Aber was ist schon die Norm z.B. als Mann? Kurze Haare? Bart? keine auffällig bunten Klamotten? keine lackierten Nägel? Wieso???
Wer hat das Recht jemandem vorzuschreiben, was er zu tun und zu lassen hat? Ich bzw. wir haben oft Angst um unser Kind, weil er eben anders ist. Er trägt auffällige, bunte Kleidung, hat lange Haare und lackierte Nägel und wirkt auf dem ersten Blick noch ziemlich feminin. Ich habe ihm mal gesagt, das ich Angst habe, wenn er so rumläuft, das ihm irgendjemand weh tut. Da waren seine Worte: „Dann ist es so, aber ich lebe mein Leben.“
Ich finde es schlimm, das man 2022 überhaupt noch solche Gedanken haben muss und deswegen ist es wichtig sich nicht zu verstecken sondern rauszugehen und sich zu zeigen. Ich finde es toll, das sich immer mehr Leute trauen.
Ich bzw. wir hoffen sehr für unser Kind, das er unbeschwert sein Leben leben kann und glücklich seinen Weg geht wohin auch immer er ihn führen wird. Das wünschen wir ihm von ganzem Herzen. Wir lieben ihn so, wie er ist, sind für Ihn da und unterstützen ihn, wo wir nur können. Auch die Geschwister, Omas und Opas, Onkels und Tanten, Freunde und alle in seinem Umfeld nehmen ihn so, wie er ist und das ist toll. Dafür sind wir sehr dankbar. Das läuft leider nicht bei allen so.
Alle Eltern sollten ihre Kinder lieben. Kein Kind, welches transident oder anders ist hat sich das rausgesucht. Es ist einfach da. Jeder Mensch sollte auf seine Art glücklich leben können ohne Diskriminierung, Hänseleien oder sogar Prügelattacken. Das wünscht sich niemand. Es kann jedem passieren, ein Kind zu haben, welches anders ist. Für mich ist „anders“ eigentlich das falsche Wort. „BESONDERS“ trifft es eher. Jeder Mensch ist etwas besonderes. In diesem Sinne:
„Seid, wie ihr seid und lebt Euer Leben!“
Vielen Dank…